Als mir Ostern Mendrisio dazwischen kam

Foto: aidosmedia
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Ich habe Ostern in diesem Jahr erstmals in Mendrisio verbracht - und werde dorthin zurückkehren.

Auch nach all den Jahren bedeutet mir das Osterfest viel, es ist für mich sinnstiftend in vielerlei Hinsicht, wie ein innerer Kompass, der nach so manchen Lebenserfahrungen neu ausgerichtet werden muss. Eigentlich wollte ich dieses Fest auch in diesem Jahr wie gewohnt ganz beschaulich verbringen, aber dann kam mir eben Mendrisio dazwischen.

 

Genauer gesagt: die österliche Prozession, die die Mendrisier in dieser beschaulichen Süd-Tessiner Ortschaft seit über 4 Jahrhunderten durchführen. Zwei Prozessionen sind es, um genau zu sein: die erste am Gründonnerstag, die zweite am Karfreitag. Der ganze Ort steht dann unter Spannung, es herrscht eine besondere, eigentümliche Atmosphäre; bereits tagsüber ist es fast schon still in den Strassen und Gassen, so als warte man auf den Beginn von etwas Grossem. Und gross ist sie in jeder Hinsicht, diese Prozession. Bis zu 700 Personen - davon rund 40 beritten - nehmen daran teil, farbenfroh eingekleidet in historischen Kostümen, die dem Fundus der Mailänder Scala entstammen. Grosse, Kleine, Junge, Alte, Mädchen, Frauen, Burschen und Kerle - alle laufen oder reiten mit, hochkonzentriert, nicht den Hunderten im Publikum zuzwinkernd sondern in der jeweiligen Rolle gänzlich versunken, was der Prozession einen ausserordentlich professionellen und authentischen Charakter verleiht.

Die Gründonnerstags-Prozession, an der ich teilnahm, zeichnet den Gang Jesu auf den Kalvarienberg nach, zeigt ihn das Kreuz tragend, schwer gebeugt, ausgepeitscht und gedemütigt von dem Volk, das vor und hinter ihm herläuft und für ihn lautstark „a morte“ - den Tod - fordert. Weiter hinten dann folgen, einige stumm, die anderen andächtig, die Jünger, auch Maria, die entrückt und verzweifelt in den Himmel blickt. Der Christus(-darsteller) fällt immer wieder unter der Last des Kreuzes und unter den Schlägen der Peiniger, kämpft sich dann mit letzter Kraft wieder hoch, wird erneut geschlagen und gedemütigt und trägt sein Kreuz weiter. 

Was diesen Szenen und der Mendrisio-Prozession ihre Stärke und ausserordentlichen Glanz verleiht ist, dass sie ohne jeden Kitsch und Übertreibung inszeniert wurde, sich strikt an die neutestamentlichen Texte hält, und dass alle Darsteller scheinbar mühelos diese Texte im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern und ihnen Leben einhauchen. Vielleicht gehört die Prozession nach so vielen hundert Jahren der Aufführung ja mittlerweile schon zur DNA der Mendrisier, wer weiss. In jedem Fall aber ist dieses Ereignis auf eigentümliche Weise in der Lage, Licht auf etwas Verborgenes in dem Betrachter zu streuen. Und dabei kommt die Passionsgeschichte, wie sie die Mendrisio-Prozession zeigt, ganz und gar ohne Glauben und Religion aus. Da, wo der Mensch vor meinen Augen - tatsächlich direkt vor mir auf dem Piazza - unter seiner Last zusammenbricht, gedemütigt und geschlagen wird, wo andere den Tod des offensichtlich Hilflosen und Unschuldigen fordern und selbst die letzten Getreuen von ihm abfallen: da werde ich auf eigentümliche Weise zum Voyeur und auch Akteur. Da wird diese Geschichte zu meiner Geschichte.

Vielleicht empfinden dies die wenigsten ZuschauerInnen an dem Abend so, das sei dahingestellt; vielleicht auch wollen es nur die Wenigsten. Das entscheidet jeder für sich selbst. Aber die Mendrisio-Prozession kann beim Zuschauenden etwas in Gang setzen (wie es sonst ja auch grosse Oper und Theater zu tun in der Lage sind). Das ist meine ganz persönliche Mendrisio-Erfahrung, wie ich sie in diesen Tagen gemacht habe. Nicht ganz freiwillig, das gebe ich gern zu. Irgendwie ist mir an Ostern Mendrisio dazwischengekommen, zum Glück. 

Und deshalb werde ich wieder dorthin zurückkehren, im nächsten April. 

 

- RaSt, 20/04/2019 -